Nichts ist schrecklicher als die Wirklichkeit und kein Genre vermag die Grenzen zwischen ebendieser und filmischer Fiktion so gut zu kaschieren, wie der Found Footage-Film. Das 15. SLASH zollt dieser Gattung mit der diesjährigen Retrospektive „FAKE TRUTHS“ nicht nur deshalb Tribut, weil sie einige der am nachhaltigsten verstörenden Auswüchse des Horrorfachs hervorgebracht hat, sondern auch, weil sie obendrein einen Eckpfeiler des Low-, bzw. No-Budget-Kinos bildet: Verwackelte Bilder, Unschärfe und schlechter Ton sind Markenzeichen der hier vorgegaukelten Authentizität, minimale Mittel erzeugen maximales Gruseln.
THE BLAIR WITCH PROJECT (1999) von Daniel Myrick und Eduardo Sánchez, der sowohl in der Retrospektive als auch im Rahmen eines Special Anniversary Open-Air Events am 31. August gezeigt wird, gilt mit einem Drehbudget von unter 100.000 $ noch immer als eine der profitabelsten Produktionen der Hollywood-Geschichte. Vermarktet als studentische Dokumentation rund um einen Hexenkult, spielte er weltweit fast 250 Millionen Dollar ein. So wegweisend der zum popkulturellen Phänomen avancierte Amateurfilm auch sein sollte, gab es schon 19 Jahre zuvor einen Film, der sich nicht nur dem Found-Footage-Genre sondern gleich der gesamten Filmgeschichte als eine der kontroversesten Arbeiten aller Zeiten ins dampfende Gedärm wühlte: Nach Veröffentlichung seines auch heute noch schwerst verdaulichen Monumentalwerks CANNIBAL HOLOCAUST (1980) wurde Regisseur Ruggero Deodato sowohl der Tötung von Menschen (zu Unrecht) als auch jener von Tieren (zu Recht) beschuldigt. Bis heute ist der Film in zig Ländern verboten, bei SLASH ist er samt Blut und Beuschel in voller Pracht zu erleben.
Die britische Mockumentary GHOSTWATCH von Lesley Manning wurde zu Halloween 1992 im Gewand einer Live-TV-Reportage auf BBC1 ausgestrahlt und heimste dem Sender tausende Anrufe aufgebrachter Zuseher:innen ein, die die Inszenierung um den vermeintlichen Poltergeist Mr. Pipes für bare Münze nahmen. Orson Welles‘ WAR OF THE WORLDS lässt grüßen.
Den vermeintlichen TV-Bericht als Spielwiese wählten auch Jaume Balagueró und Paco Plaza für [REC] (2007), in dem eine Reporterin (Manuela Velasco ist auch im echten Leben Fernseh-Moderatorin) und ihr Kameramann eine Nacht auf der Feuerwache dokumentieren und sich bei einem Einsatz eingeschlossen in einem Haus wiederfinden, in dem ein Zombie-Virus zu grassieren scheint. Für besonders authentische Reaktionen wurde die Darsteller:innen erst beim Dreh mit Schlüssel-Schreckmomenten konfrontiert.
Zum Kultfilm mauserte sich sich die 1992 erschienene, hyperbrutale schwarze Komödie MAN BITES DOG, in der eine Filmcrew einen völlig durchgeknallten Serienmörder begleitet und zunehmend in die Komplizenschaft abdriftet. Rémy Belvaux, André Bonzel und Benoît Poelvoorde zeichneten nicht nur für Script, Regie und Produktion verantwortlich, sondern spielten auch die Hauptrollen unter ihren tatsächlichen Vornamen.
Einen der hirnverbranntesten Retro-Beiträge liefert Harmony Korine mit seinem auf VHS-Tape gedrehten TRASH HUMPERS (2009). In Korines Kindheit habe es eine Gruppe älterer Personen gegeben, die ihre Zeit betrunken und tanzend in den Seitengassen und Unterführungen im Umfeld seines Hauses verbrachten: „One night I looked out my bedroom window and saw a group of them humping trash cans and laughing. It sounded like they were speaking a strange invented language. This is a movie about them.“
Neben der traditionellen „Nacht der 1000 Messer“ liefert heuer auch die Retrospektive einen Kino-Marathon: MARBLE HORNETS ist die von Troy Wagner und Joseph DeLage zwischen 2009 und 2014 kreierte Youtube-Webserie, die von der zum Mythos gewachsenen Internet- und Gaming-Figur Slender Man inspiriert wurde. Als der Filmstudent Jay die Videotapes eines unvollendeten Projekts in die Hände bekommt, entdeckt er in den Aufnahmen übernatürliche Vorkommnisse und sucht nach Antworten. Bei SLASH sind alle drei Staffeln (Gesamtlauflänge: 538 Minuten) der bekanntesten Serie des „Slenderverse“ am Stück zu sehen.
Die weiteren Filme der Retrospektive werden in den kommenden Wochen verkündet, der Online-Vorverkauf startet am 6. September.