In einer Zeit, in der die ohnehin immer porösen Grenzziehungen zwischen (subjektiver) Wirklichkeit und deren medialer (Nach-)Bearbeitung, Verfremdung und Manipulation nicht mehr nur verschwimmen, sondern sich bisweilen aufzulösen drohen, erscheint es nicht nur anempfohlen, sondern nachgerade essentiell, sich tiefgehend einem Genre zu widmen, das diese Verunsicherung zu seinem wesentlichsten Gestaltungselement macht.
Bereits im 19. Jahrhundert setzten Briefromane wie Bram Stokers Dracula darauf, und während es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus experimentelle Herangehensweisen an Found Footage, POV-Kino oder Mockumentary gab, etwa Peter Watkins grandiosen Punishment Park, gilt Ruggero Deodatos Meisterwerk Cannibal Holocaust (1980) gemeinhin als erste Verschränkung des Genres mit Motiven aus dem Horrorfilm.
In den über vierzig Jahren seit diesem Skandalwerk hat sich der Found-Footage-Horrorfilm enorm diversifiziert. Als leider allzu schwammiger Dachbegriff umfasst er P(oint)-O(f)-V(iew)-Arbeiten ebenso wie Mockumentaries sowie diverse andere Strömungen, von denen sich viele auch in unserer heurigen Retrospektive abdrücken.
Etwa The Blair Witch Project (1999): Mit unter 100 000 Dollar Drehbudget und über 250 Millionen an der Box Office zählt er noch immer zu den profitabelsten Produktionen der Hollywood-Geschichte und wurde zum wesentlichen popkulturellen Phänomen der ausgehenden 90er-Jahre. Den vermeintlichen TV-Bericht als Spielwiese wählten sowohl der spanische Genrehit [REC] (2007) als auch Ghostwatch, der bereits 1992 das Publikum der britischen BBC schockierte: Die Mockumentary um einen Poltergeist wurde von vielen für echt gehalten. In der hyperbrutalen wie provokanten Kult-Komödie Man Bites Dog (1992) begleitet derweil eine Filmcrew einen völlig durchgeknallten Serienmörder und driftet zunehmend in die Komplizenschaft ab. Für einen der radikalsten wie einzigartigsten Retro-Beiträge sorgt Harmony Korine mit Trash Humpers (2009), während die bahnbrechende und maximal unheimliche Webserie Marble Hornets (2009–14) zum Kinomarathon einlädt. Den japanischen Beitrag zum Genre beleuchten indes ein Doppelpack aus dem im Westen bisher kaum bekannten Meilenstein Psychic Vision: Jaganrei (1988) und Celluloid Nightmares (1999) sowie das Found-Footage-Schlüsselwerk Noroi: The Curse (2005). Neben jeder Menge Düsternis komplettiert der grandiose Troll Hunter (2010) die Fake Truths mit einer nötigen Dosis leichtfüßiger Fantastik.